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„Du geben zurück das!“, brüllte der Junge und grapschte nach dem Umhang.
„So siehst du aus!“ Ich zog das Tuch zurück und hielt ihn mit meinem Fuß auf Abstand. Dafür dass er gerade noch japsend im Sand gelegen hatte, entwickelte dieser Straßenbengel schon wieder eine erstaunliche Kraft.
„Erst mal erklärst du mir, wer du wirklich bist und was das hier zu bedeuten hat.“
„Dich nichts gehen an das. Du Fremder.“
„Ich geb dir gleich Fremder, Usuratonkachi!“ Mit einem Tritt stieß ich ihn weg.
„AU!“ Er purzelte über den Sandboden und rieb sich dann mit schmerzverzerrtem Gesicht den verlängerten Rücken.
„Selber schuld, Idiot. Jetzt antworte mir!“ Ich stand auf und hielt sein spärliches Eigentum über das Lagerfeuer. „Falls du dich weigerst verbrenne ich all deine Sachen. Dann kannst du sehen, wie du die Wahrheit noch verbergen willst.“ Ich grinste triumphierend.
„Nein! Bitte nicht tun das!“
„Dann rede! Und wehe du lügst, das merke ich sofort.“ Ich sah ihm direkt in die Augen.
Er sank in sich zusammen und blickte zu Boden.
„Du sowieso nicht verstehen“, murmelte er.
„Wie war das?“ Ich hielt die Lumpen etwas dichter übers Feuer.
„Nein, nicht!“ Er streckte verzweifelt die Hände in Richtung seines Umhangs. Es war nicht mehr als eine Geste, da er viel zu weit weg war. „Ich reden, ich alles sagen was du wollen.“
„Na dann los. Wie war dein genauer Plan?“
„Plan?“ Er blinzelte überrascht und starrte mich an.
„Ja, dein Plan uns in die Irre zu führen und auszurauben.“
„Was du reden da, Sidi? Ich nix machen sowas.“
Ich schnaufte verächtlich und senkte den Umhang kurz ins Feuer.
„NEEEEIN!“ Er hechtete auf mich zu, doch ich wich blitzschnell aus und ließ ihn ins Leere stolpern. Eine meiner leichtesten Übungen.
„Deine letzte Warnung, Usuratonkachi.“ Ich hielt die noch intakten aber leicht rauchenden Lumpen wieder über das Feuer. „Jetzt raus mit der Wahrheit, aber schnell! Und lass bitte dieses lächerliche Kauderwelsch. Wen willst du damit noch verarschen?“
„Kau-was? Ich nix kauen. Was du meinen?“
Ich lächelte humorlos und senkte die Lumpen näher gen Feuer.
„Hör auf! Bitte, du müssen aufhören, Sidi! Das meine einzigen Sachen.“ Er wirkte verzweifelt.
„Dann kaufst du dir eben neue.“
„Ich nix haben Geld kaufen neue!“ Wütend schrie er mich an. Waren das etwa Tränen in seinen Augen? Ich schaute überrascht in sein Gesicht.
Sofort ging er in die Hocke und wischte hektisch seine Augenlider.
„Das nur Rauch. Du nicht denken ich weinen. Ich nie weinen, ich ganzer Mann.“
„Aber klar doch.“ Die Ironie in meinem Tonfall war wohl nicht zu überhören, denn er blickte zornig auf.
„Wie auch immer“, fuhr ich fort. „Du sagst mir jetzt erst mal woher du kommst.“
„Ich kommen mit dir zusammen zurück aus Wüste, du nicht erinnern dich Sidi?“
„Mann! Ich hab dich nicht gefragt wo du jetzt her kommst sondern generell. Spiel hier nicht den Blöden!“ Ich nahm eine offensive Haltung ein. Der brachte mich echt auf die Palme!
„Ich nix General, ich nicht mal in Armee.“
„Du Blödmann! Du sollst mir sagen welche Nationalität du hast!“ Mein Tonfall war deutlich lauter geworden.
„Nationalität?“
„Ja, das Land, in dem du geboren bist.“ Ich glaube, mein Gesicht musste bereits rot angelaufen sein vor Wut. Verarschte der mich etwa?
„Ich hier geboren, Sidi. In Ägypten.“ Seine Stimme klang irritiert.
„Das glaube ich dir nicht.“
„Ist aber wahr.“ Er setzte ein überzeugtes Gesicht auf.
„Nein, ist es nicht!“, herrschte ich ihn an.
„Doch wahr!“ Er sprang auf.
„Das kann nicht sein.“ Ich machte einen Schritt in seine Richtung.
„Ist aber.“ Er trat mir energisch entgegen.
„Hör auf zu lügen!“
„Ich nix lügen!“ Er warf sich in die Brust.
„Doch!“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich gar nicht bemerkt hatte wie wir uns während des Streits näher und näher gekommen waren. Fast berührten sich unsere Nasenspitzen.Trotzig starrten wir uns an, keiner von uns bereit auch nur einen Millimeter zurückzuweichen.
„Und warum bist du dann blond und hast blaue Augen, häh?“, warf ich ihm entgegen.
Er blickte beschämt nach unten, als wolle er den Beweis seiner Andersartigkeit verbergen.
„Du wie alle anderen“, murmelte er enttäuscht. „Nur sehen Äußeres, nicht sehen Seele.“
Irgendwie bereitete mir dieser Satz ein unangenehmes Gefühl in der Brust. Ich mochte mich aber nicht schlecht fühlen. Schon gar nicht wegen dem da. War doch eh alles bloß Theater.
Ärgerlich schmiss ich ihm seine Fetzen hin.
„Da, nimm! Es interessiert mich nicht mehr warum du dich maskierst. Nimm sie und hau einfach ab.“
„Sidi mich schicken weg?“ Er blickte erschrocken auf.
„Für Lügner ist hier kein Platz.“
„Ich nix Lügner! Ich nur...“ Er stockte mitten im Satz und scharrte verlegen mit den Füßen.
„Was?“ Langsam riss mir der Geduldsfaden.
„Leben einfacher so.“ Er setzte einen sturen Blick auf und machte dicht.
„Tse!“ Ich drehte mich um und nahm mir vor ihn nicht mehr zu beachten.
Leider wurde daraus nichts. Er packte meine Schulter und riss mich herum.
„Ich hier geboren, Sidi, ich Ägypter. Aber Menschen immer nur sehen DAS!“ Er zeigte auf seine Augen. „Dann sagen mir: Du nicht einer von uns, du fremder Teufel, gehen weg!“ Er senkte den Blick. „Du nicht wissen wie das ist, Sidi. Ich keine Familie, niemanden.“
„Na und? Ich heul gleich.“ Der Sarkasmus in meiner Stimme war deutlich erkennbar, selbst für diesen Vollidioten. Er zuckte zusammen und zeigte für den Bruchteil einer Sekunde einen verletzten Gesichtsausdruck, aber mir war das egal. Als hätte ich keine Probleme. „Sei doch froh! Keiner macht dir irgendwelche Vorschriften, du kannst tun was immer du willst, musst dich vor niemandem beweisen. Verwandte...“ Mein Ton wurde verächtlich. „...bringen nichts als Ärger.“
„Du nicht reden so!“, schrie er auf einmal los. „Du nie Hunger oder nicht wissen wo schlafen. Du Schule gehen, immer neue Sachen anziehen. Du nie Angst haben müssen, immer reden können mit jemand. Familie dich beschützen, immer für dich da.“
So hatte ich das noch nie gesehen. War das nicht selbstverständlich? Anscheinend nicht für jeden. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht wie das Leben für jemanden ganz ohne Familie war.
„Materielle Sicherheit ist nicht alles“, murmelte ich. „Und Verwandte können wie die Pest sein, nur schlimmer. Was weißt du schon? Du hast ja niemanden.“
„Richtig, ich nix kennen Verwandte, nur kennen Waisenhaus.“ Er klang beleidigt. „Dort schlecht, wenig essen, viel Arbeit. Erwachsene immer schimpfen mit mir, manchmal auch schlagen, aber nix schlimm. Ich stark.“ Er schlug sich stolz gegen die Brust.
„Na Klasse! Wenn es so toll für dich war, wieso bist du dann hier? Außerdem... du bist noch nicht 21 und ich glaube kaum, dass man da wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird.“ Zugegeben, das war jetzt vielleicht ein klein wenig gemein, aber ich hatte seine laute, aufdringliche Art einfach satt. Außerdem... erst einen auf Mitleid machen und dann hervorheben was für ein harter Kerl man war, also echt... Welches Räubermärchen wollte der Lumpenjunge mir hier eigentlich auftischen?
Ein dunkler Schleier legte sich plötzlich über seine Augen und ließ sie fast schwarz erscheinen.
„Andere Kinder nicht ansehen mich“ flüsterte er heiser. Dann fuhr er etwas lauter fort. „Ich müssen machen Beweis, ich selbe wie sie. Aber...“ Er stockte.
„Was?“
„Sehr, sehr schwierig.“
„Tse. Wann wäre im Leben je etwas leicht gewesen? Tu nicht so als wärst du der Einzige, der es schwer hatte.“ Ich machte eine abfällige Geste.
„Ja, aber...“ Er blickte rebellisch zu mir auf, zuckte dann aber die Schultern. „Du sowieso nicht verstehen. Du reich.“
„Was hat das denn damit zu tun?“ Langsam machte der Kerl mich wirklich wütend.
„Reiche Leute nie verstehen. Nicht kennen Gemeinheit von anderen.“
„Als ob! Gerade die Wohlhabenden sind von gemeinen Schmarotzern umgeben, die einem schön tun, es aber nicht so meinen. In Wirklichkeit denken sie ganz anders über dich, tuscheln hinter deinem Rücken und machen dich herunter. Der Neid frisst sie auf, aber sie wollen um jeden Preis von dir profitieren. Diese Leute schwirren um dich herum wie Fliegen um einen Haufen Scheiße. In der Not lassen sie dich dann fallen als wärst du ein Stein, der um ihren Hals hängt. Du kannst nie wissen wem du trauen kannst. Als Reicher hat man keine Freunde, nur Verbündete und Untergebene.“ Meine Wangen fingen an zu glühen.
Der Junge starrte mich betroffen an. Ich stockte als mir bewusst wurde, wie viel ich von mir Preis gegeben hatte. Wann hatte ich mir je so eine Blöße gegeben? Ärgerlich kniff ich meine Augen zusammen.
„Wie auch immer. Ich bin ich sehr wohl in der Lage etwas zu verstehen. Also heraus damit, was haben sie als Beweis von dir verlangt?“
„Ich nicht sagen.“ Er machte ein abweisendes Gesicht.
„Muss ich es erst aus dir heraus prügeln?“ Ich zeigte ihm meine geballte Faust.
„Ich trotzdem nicht sagen.“ Er schien nicht im Geringsten eingeschüchtert.
„Na, dann hau doch ab“, zischte ich. „Du bist sowieso schon viel zu lange hier.“
„Nein, ich nicht wollen weg.“ Seine Stimme klang etwas kleinlauter.
„Dann sag's mir. Bin ich der Meinung dass du mir die Wahrheit erzählst und nichts auf dem Kerbholz hast, darfst du vielleicht bleiben.“
„Sidi du immer reden von Holz. Das fixe Idee von dir?“
„Jetzt lenk nicht ab. Erzähl endlich!“ Der brachte mich schon wieder zur Weißglut.
„Aber.. aber das sehr peinlich.“
„Ist mir egal. Erzähl.“
„Also ich... ich keine Schuld. Ich nix machen Böses, nur möchte sein wie andere Kinder. Aber andere Kinder sagen: Du nix wie wir, erst Beweis machen. Du machen Mutprobe, entweder stehlen Schlüssel von Waisenhaus-Boss oder zeigen alles.“
„Was meinst du damit 'zeigen alles'?“ Ich runzelte die Stirn.
„Na, ausziehen. Zeigen alles, auch Pipimann. M..mädchen auch zusehen.“ Eine deutliche Röte überzog auf einmal seine Wangen und er blickte verschämt nach unten.
„Und das hast du gemacht?“ Ich riss ungläubig die Augen auf.
„Nein, haha, ich gehen stehlen Schlüssel.“ Er schaute wieder auf und grinste stolz.
„Na dann war doch alles in Ordnung.“
„Äh, nein, nicht wirklich“ Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Boss aufwecken und sehen mich.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu einer schmerzhaften Grimasse. „Wenn Boss mich erwischen, vielleicht totschlagen mich. Darum ich schnell weglaufen, verstecken. Aber ich nie wieder können zurück.“ Sein Tonfall wurde traurig. „Waisenhaus nix gut, aber einzige Familie. Draußen keine Familie, Leben hart. Leute nicht kennen mich. Niemand helfen mir, alle nur sehen Augen, Haare, nur sehen Äußeres und ich ganz allein.“ Er klang als stünden ihm Tränen in den Augen. Ich starrte ihn für einen kurzen Moment an. Er senkte den Blick.
„Dann ich nehmen Tuch, verstecken Haare, verstecken Augen, gehen Gizeh.“ Er verstärkte seine Stimme. „Jetzt alles gut. Menschen bisschen helfen, geben Essen, Wasser, manchmal Schlafplatz. Ich bisschen Arbeit, lernen deine Sprache, führen Touristen, machen Geschäfte. Nur wenig Geld, aber okay. Mein Leben jetzt bisschen besser, du nicht mir nehmen weg, Sidi.“ Sein Tonfall wurde mit jedem Wort lauter und verzweifelter. „Ich nicht wollen gehen andere Stadt. Gizeh gut. Ich hierbleiben, bitte!“ Er packte meine Schultern und schüttelte mich.
Verärgert schlug ich seine Hände weg.
„Jetzt hör auf hier so einen verdammten Aufstand zu machen, Usuratonkachi! Du weckst noch Kakashi-san und dann sind wir beide in Schwierigkeiten.“
Er stand da und ließ betrübt die Arme hängen. Alle Hoffnung war aus seinen Augen verschwunden.
„Meinetwegen kannst du bleiben“, nuschelte ich undeutlich.
Er blickte überrascht auf und strahlte mich an. „Wirklich?“
„Es ist ohnehin nur noch ein Tag und eine Nacht, da kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an.“
„Sidi...“ Er breitete glücklich die Arme aus. Wollte der mich jetzt etwa umarmen?
„Außerdem bist du ein Depp und ich glaube nicht, dass du zu so einem ausgeklügelten Plan fähig bist“, fuhr ich ungerührt fort. „Dazu bist du einfach zu dumm.“
Seine Arme sanken abrupt herunter und seine Freude machte einem verärgerten Gesichtsausdruck Platz.
„Ich nix dumm, du nehmen sofort zurück das!“, schrie er mich an.
„Halt die Klappe, Usuratonkachi. Ich habe dir eben schon mal gesagt, dass du nicht so laut sein sollst.“
„Du mich nicht mehr nennen Usurutu... dingsbums! Du selber Usuru... du Blödmann!“
„Nimm das zurück“, knurrte ich. Also wirklich, da war man einmal großzügig und dann sowas. Einen Nerv hatte der...
Mich total ignorierend band er sich das Tuch wieder über den Kopf und zog die kaputte Sonnenbrille auf.
„Ich nehmen zurück wenn du nehmen zurück ich dumm.“ Er verschränkte die Arme vorm Körper und nickte bekräftigend.
„Nie im Leben. Ich kann nämlich nicht lügen. Das unterscheidet mich von dir.“
„OH, erst du sagen ich dumm und jetzt sagen ich lügen? Du... du...“
„Na? Sag's ruhig, nur raus damit!“ Ich schnaubte verächtlich. „Sofern du das überhaupt in deinem spärlichen Wortschatz hast, heißt das.“
„Du nix dich machen lustig über mich! Ich arm, ich kein Schatz.“
„Wortschatz, du Idiot. Wortschatz!“
„Wo Unterschied? Schatz ist Schatz, ich nix reich so wie du.“
„Ma-ann! Halt die Klappe, Vollidiot!“
„Du selber Vollidiot!“
„Nein du, Usuratonkachi!“
„Nein du sein Vollidiot, Sidi!“
„Nein du!“
„Nein du!“
„Nein du!“
„Nein du!“
„Ich möchte euren Ehestreit ja nur ungern unterbrechen, Mädels, aber wäre es nicht schön, wenn ihr mir mal erklären würdet wo ihr so lange abgeblieben seid?“
Wir erstarrten beide in unseren Bewegungen als sich Kakashi-sans schwere Hände auf unsere Schultern legten.
„Khaled und ich haben nämlich die halbe Wüste nach euch abgesucht nachdem ihr über 2 Stunden verschollen wart und ich wäre jetzt wirklich verärgert, wenn das ganz und gar umsonst gewesen sein sollte.“
Ich drehte mich vorsichtig zu ihm um und sah, dass Kakashi-san lächelte. Das war kein besonders gutes Zeichen. Ein ganz und gar nicht gutes Zeichen, um exakt zu sein. Wir hatten quasi Alarmstufe rot und standen kurz vor einer fatalen Kollision mit dem Sicherheitschef.
„Das alles seine Schuld, Sidi, ehrlich“, hörte ich den Jungen krähen. „Ich nix gemacht, ich ganz unschuldig.“
Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Soviel zum Thema Mildtätigkeit und Vertrauen...