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Am Ende der Hoffnung
Ich trat schwer atmend in die Küche und riss mir das feuchte Tuch vom Gesicht, das ich schützend über Mund und Nase gebunden hatte. Erst danach streifte ich die Gummihandschuhe ab und warf sie ins Spülbecken. Ich übergoss sie mit brühend heißem Wasser und schüttete eine ordentliche Portion Bleichmittel hinterher.
„Wie geht es ihr?“, fragte Martin. Seine Stimme war schwer von Sorge.
Erschrocken drehte ich mich um. Ich hatte ihn nicht kommen hören. „Unverändert“, erwiderte ich leise und starrte zu Boden.
„Marie, hör zu“, begann er sanft.
Er trat einen Schritt auf mich zu und legte mir seinen starken Arm um die Schultern. Er führte mich zum kleinen Küchentisch und rückte mir einen Stuhl zurecht. So setzte ich mich ihm gegenüber. Er sah mich für einen langen Moment an, einen Moment, indem ich einen schwachen Hoffnungsschimmer in seinen braunen Augen erkannte.
„Ich weiß, wie sehr du den Fischkopf hasst“, begann er entschuldigend. „Aber gestern Abend hat dort ein Mann von einem Medikament erzählt, das angeblich hilft. Ein neues Antibiotikum. In Stuttgart soll es bereits auf dem Schwarzmarkt erhältlich sein.“ Er sah mich gespannt an, die Augen leuchteten jetzt voller Hoffnung. Er wartete, was ich sagen würde.
Doch so sehr ich auch hoffen wollte, seine Informationen waren mir zu vage. „Aha“, machte ich daher nur. „Und wer war dieser Kerl? Hatte er irgendwelche Beweise?“
Martin seufzte. „Ich habe ihn nicht ausgefragt, aber er hat Onkel Bill eine Probe des angeblichen Wundermittels verkauft. Gegen seinen chronischen Schnupfen.“
„Wie teuer? Hat es gewirkt?“, fragte ich tonlos.
Wenn Onkel Bill das Zeug tatsächlich geschluckt hatte, sollten wir heute wissen, ob es ihm besser geht. Jetzt fühlte ich auch in mir schwache Hoffnung aufkeimen.
„Viel zu teuer“, sagte er und starrte betreten auf die alte Tischplatte zwischen uns.
„Die Summe. Wie viel hat er berappen müssen?“, fragte ich eindringlich.
„Fünfzig Euro. Für eine Tablette.“ Er schwieg.
„Was?“, entfuhr es mir entsetzt. „So viel haben wir nicht übrig! Eine einzige Tablette wird Lydia bestimmt nicht reichen.“
„Ich weiß“, erwiderte er dumpf. „Aber wir müssen es wenigstens versuchen. Es ist unsere einzige Hoffnung.“
Ich nickte stumm. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber im Grunde wusste ich, dass er Recht hatte.
„Geh bitte rüber zu Onkel Bill und schaue, wie es ihm geht. Ich kümmere mich derweil um eine Reisemöglichkeit nach Stuttgart“, sagte ich.
Er nickte und stand auf. Ich ging in unser winziges Wohnzimmer hinüber und fuhr den Laptop hoch. Reisen war so viel schwieriger geworden, seitdem sie die ganzen Kontrollen eingeführt und die Quarantänestationen erbaut hatten. Das Flugzeug war zwar der schnellste Weg in den Süden, doch selbst mit genügend Geld war es keine Option. Mit einem infizierten Kind durften wir schlicht und ergreifend nicht fliegen. Also blieben uns noch Auto und Bahn.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich kaum hörte, wie die Haustür hinter Martin ins Schloss fiel. Ich suchte eine Strecke von Wilhelmshaven nach Stuttgart raus. Die Autobahn war am schnellsten. Ich sah allerdings sofort, dass es viel zu viele Kontrollpunkte gab. Hier würden wir ewig warten müssen, den Polizisten immer wieder dieselbe Geschichte erzählen und uns endlos dafür rechtfertigen müssen, unsere kranke Tochter durch ganz Deutschland zu kutschieren. Nein, das Auto konnten wir nicht nehmen.
Also blieb noch der Zug. Ich fand eine gute Verbindung, von hier nach Bremen und von dort mit dem ICE direkt nach Stuttgart. Mit Umsteigezeit neun Stunden. Nur Fliegen wäre schneller. Für einen Aufpreis von Siebzig Euro konnten wir morgen sogar noch einen Platz im Seuchenabteil ergattern, wie die Waggons genannt wurden, in denen alle Infizierten in speziellen Abteils sitzen mussten. Ich seufzte erleichtert, weil wir gleich morgen reisen konnten. Aber Ich war auch frustriert, weil ich unser sauer Erspartes empfindlich schwinden sah. Ich öffnete gerade eine Website mit günstigen Unterkünften in Stuttgart, als die Wohnzimmertür aufging.
„Was machst du denn schon so früh hier, Lucas?“, fragte ich meinen elfjährigen Sohn.
Er schlug betreten seine hellblauen Augen nieder. Sein unordentliches, blondes Haar hing traurig herab. „Frau Marzahn hat sich infiziert. Die letzte Doppelstunde ist ausgefallen“, erwiderte er tonlos.
„Oh“, machte ich entsetzt. Es traf in letzter Zeit immer mehr Menschen. Man konnte sich noch so gut vorbereiten, möglichst viele Körperteile bedecken, um Verletzungen und drohende Infektionen zu vermeiden, keine Meeresfrüchte essen, Fleisch und Gemüse kochen bis nur noch eine tote, breiige Pampe im Topf schwamm, dennoch infizierten sich immer mehr. Die Temperaturen im Sommer begünstigten das Bakterienwachstum überall. Letztes Jahr hatte es einen Choleraausbruch im Nachbarviertel gegeben. Hunderte waren gestorben. Es gab nur eine Handvoll Überlebender. Damals hatten wir auch einen guten Freund verloren. Frau Marzahn wohnte nicht weit vom Unglücksviertel. Sollte es dort wieder losgehen?
„Wie geht es Lydia?“, wollte er wissen und setzte sich neben mich.
„Unverändert“, antwortete ich trocken.
„Fahren wir weg?“, fragte er erstaunt und deutete auf den Laptop.
„Vielleicht“, erwiderte ich und berichtete kurz, was Martin mir erzählt hatte.
Kaum hatte ich geendet, kam mein Mann auch schon durch die Tür. Sein Schritt war nicht so schwer wie sonst. Er lief leichtfüßig und beschwingt. Da wusste ich sofort, dass er gute Nachrichten hatte.
„Onkel Bill geht es deutlich besser?“ Es war eine rein rhetorische Frage.
„Seine Nase läuft nicht mehr, und er hat auch kein einziges Mal geniest“, berichtete Martin. Während er dies sagte, stahl sich sogar ein schmales Lächeln auf seine Lippen, was sofort wieder verblasste.
Ich seufzte vor Erleichterung. „Ich hätte nie gedacht, dass ich dies einmal sagen würde. Geh heute Abend wieder in den Fischkopf. Dann fragst du den Unbekannten, wo es das Medikament genau zu kaufen gibt. Wir fahren morgen früh mit dem Zug. Es gibt noch ein freies Seuchenabteil. Dann können wir die lange Fahrt wenigstens unter uns sein.“
„Hast du schon eine Unterkunft?“, fragte er.
„Nein, dafür will ich den Stadtteil wissen. Aber es gibt einige günstige Ferienwohnungen, Selbstversorgung“, teilte ich ihm meine Rechercheergebnisse mit.
„Okay. Dann sollten wir schon anfangen zu packen“, meinte Martin.
„Wie viel darf ich mitnehmen?“, fragte Lucas.
„Deinen Koffer und deinen Rucksack“, erwiderte ich. „Wir wissen nicht, wie lange wir bleiben, also pack genug Klamotten und deine wichtigsten Schulbücher ein. Aber lass noch Platz für Lebensmittel. In Stuttgart ist alles viel teurer als hier. Wir sollten so vieles wie möglich mitnehmen.“
Er nickte eifrig und verschwand in sein Zimmer.
„So, ich rufe in der Schule an und melde ihn für die nächsten Tage ab. Wir sollten uns noch einen guten Grund für unsere Reise überlegen, falls ein Schaffner zu neugierig fragt“, sagte ich zu Martin.
Er nickte. „Ein Klassentreffen. Einer meiner Klassenkameraden wohnt dort unten, wie ich gehört habe. Ich hatte nie Kontakt zu ihm, aber den Schaffnern wird es wohl als Begründung reichen.“
Ich nickte. Dann buchte ich die Reise mit einem Klick auf den Bestätigen-Button. Bange sah ich, wie gut Fünfhundert Euro von unserem Onlinekonto verschwanden. Es ist alles nur für Lydia, sagte ich mir und klappte den Laptop zu.
Nachdem ich im Schlafzimmer eilig ein paar Sachen in meinen Koffer gestopft und Kleidung für Lydia ganz nach oben gelegt hatte, lief ich unruhig wieder in ihr Zimmer, das sich bereits vor zwei Tagen in ein Krankenzimmer verwandelt hatte. Sie lag im Bett und schlief. Ihre dunklen Haare umrahmten ihr schmales Gesicht. Ihre Lippen waren selbst jetzt blau. Sie hatte Gänsehaut. Ihr Atem ging viel zu schnell. Wenn ich ganz aufmerksam lauschte, glaubte ich, ihren rasenden Herzschlag zu hören. Ich redete mir ein, dass ihre Herzfrequenz viel zu hoch war.
Mit spitzen Finger zog ich die Decke höher bis unter ihr Kinn. Ich wusste, ich sollte sicherheitshalber Handschuhe anziehen, doch für diese kleine Berührung wollte ich nicht so einen Aufwand betreiben.
Wie konnte sie jetzt nur frieren? Es waren knappe Dreißig Grad Celsius im Zimmer. Wir hatten ihr alle Decken gegeben, die wir finden konnten. Die Luft war stickig, doch ich traute mich nicht, das Fenster zu öffnen. Ich hatte zu große Angst, dass mit der frischen Luft weitere Keime hereinkamen. Immerhin traute ich mich, die Zimmertür einen Spalt aufzulassen.
Lucas sah mich und fragte mit großen Augen: „Was ist mit den Bakterien?“
„Sie braucht dringend etwas Luft, so kann sie kaum atmen“, erwiderte ich. „Außerdem hat sie sich doch beim Spielen am Strand angesteckt. Daher denke ich nicht, dass sich die Bakterien durch die Luft verbreiten. Sie leben bestimmt nur im Wasser.“
Er nickte. „Ja, Mama. Ich gehe schon gar nicht mehr zum Meer, seitdem Lydia das passiert ist.“ Er sah hastig weg.
Ich wusste, wie sehr er das Meer mochte. Nicht nur er, wir alle liebten es. Mit einem Mal benommen lief ich zum Sofa und setzte mich. Die Erinnerungen überfielen mich wieder. Es sollte ein schöner Sonntagsspaziergang werden. Wir hatten uns schickgemacht und waren zum Deich gelaufen. Wir wollten oben auf der Deichkrone entlanggehen, ein bisschen auf den menschenleeren Strand und das braune Wasser schauen, was nur ganz hinten am Horizont tiefblau war. Doch dann war dort diese Familie gewesen. Mit vier Kindern, alle deutlich kleiner als meine beiden. Sie hatten im flachen Wasser gespielt. Ganz wie früher, mit Schaufel und Sandförmchen. Hatten Sandburgen gebaut. Bevor Martin und ich reagieren konnten, war Lydia losgerannt. Lucas wollte hinterher, doch Martin bekam ihn gerade noch zu fassen.
So laut wir konnten, riefen wir Lydia, befahlen ihr wieder zurückzukommen. Doch sie hatte nur gelacht. Lucas hatte uns mit großen Augen gefragt:
„Ist es wirklich so gefährlich? Die dürfen aber alle im Wasser spielen.“
Martin und ich hatten nur ungläubig gestarrt. Wie konnten diese Eltern so verantwortungslos sein und ihre kleinen Kinder barfuß und ohne Schutzhandschuhe im Wasser spielen lassen? Die Medien waren voll von Warnungen vor Infektionen, Nachrichten über tödliche Fälle. Überall in Deutschland, in ganz Europa und der Welt. Es gab keinen Ort mehr, den sie nicht erreicht hatten. Multiresistente, humanpathogene Keime. Sie waren überall. Es gab keine Medikamente mehr, die noch wirkten.
Martin hielt Lucas fest während ich eilig die Stufen hinunter zum Strand lief. Ich packte Lydia und zog sie schnell weg von der Familie. Ich sah in die großen, grünen Augen der Mutter, umrahmt von rotblondem Haar. Sie starrten mich verwirrt und unschuldig an, so, als würden sie sagen: Es ist doch alles gut. Was hast du bloß? Gönn den Kindern doch die Freude. Wortlos wandte ich mich ab, meine Tochter im Schlepptau. Lydia quengelte die ganze Zeit, sie wollte zurück zu den anderen Kindern.
Erst Zuhause bemerkten wir den kleinen Schnitt in ihrer Handfläche. Er kam sicherlich von einer Muschel oder einem Stein. Später am Abend dann hatte es begonnen. Schüttelfrost und Fieber überfielen sie. Sie übergab sich. Seitdem lag sie im Bett. Eine Infektion, vermutlich Vibrionen. Diese Bakterien waren hier an der Nordseeküste schon häufiger aufgetreten.
Zum Arzt brauchten wir gar nicht erst zu gehen. Es gab längst keine Antibiotika mehr, die gegen Keime wirkten. So blieb uns nichts weiter als zu hoffen, dass Lydias Immunsystem den Erreger ohne Hilfe erfolgreich bekämpfen würde. Zuerst hatte sie stark ausgesehen. Das Fieber war nur langsam gestiegen. Doch seit gestern war sie deutlich schwächer. Der Schüttelfrost war viel stärker geworden. Sie brach fast alles wieder aus, was sie zu sich nahm. Ihr Zustand hatte sich seitdem nicht mehr geändert.
Wir machten uns Sorgen, zuallererst um Lydia natürlich, aber auch um unsere eigene Gesundheit. Was, wenn wir uns auch ansteckten? Viel zu oft las ich in den Nachrichten von ganzen Familien, die an Infektionen gestorben waren, weil sie sich um ein krankes Kind gekümmert hatten. Deshalb ergriffen wir alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen: Handschuhe und feuchte Tücher, die wir nach Gebrauch sofort mit kochendem Wasser und Bleichmittel reinigten. Die Medien sagten, dass Bleichmittel Bakterien abtötet. Wir hofften, dass es funktionierte.
Nur jetzt war ich nachlässig geworden. Ich erhob mich und schloss Lydias Zimmertür wieder. Lucas‘ fragender Blick folgte mir.
„Das ist genug frische Luft“, erklärte ich.
~~~
Nach dem Abendessen überprüfte ich Lucas‘ und Martins Gepäck und packte meine restlichen Sachen. Erschöpft legte ich mich ins Bett. Ich wartete auf Martins Rückkehr aus dem Fischkopf. Ich musste noch die Unterkunft buchen. Im fahlen Schein der Nachttischlampe lag ich unter dem dünnen Bettlaken und lauschte meinem unruhigen Atem in der schwülen Hitze. Ich griff nach einer Illustrierten, um mich mit Kreuzworträtseln abzulenken. Doch die Wörter wollten mir nicht einfallen. Überall sah ich schleimige Bakterien, die gefräßig auf mich zukrochen.
Ich atmete erleichtert auf, als die Schlafzimmertür klapperte. Martin riss sich den Mundschutz vom Gesicht und gab mir einen Kuss.
„Und, hast du ihn wiedergesehen?“, fragte ich.
Er nickte. „Ja, er hat mir eine Kneipe empfohlen, den Roten Luchs. Dort soll es das Antibiotikum geben.“
„Welcher Stadtteil?“ Ungeduldig holte ich den Laptop hervor.
„Feuerbach, ein ehemaliges Industriegebiet“, sagte er.
Schnell klickte ich mich durch die Websites der Ferienwohnungen, die ich heute Nachmittag offengelassen hatte. Ich war mir sicher, den Namen Feuerbach irgendwo gelesen zu haben. Ferienwohnung mit zwei Schlafzimmern, da war die Anzeige wieder. Ich zeigte sie Martin. Er nickte zustimmend.
„Dann schlafen wir im Wohnzimmer und Lydia kriegt das zweite Schlafzimmer“, sagte er.
„Ja, oder wir schlafen zu dritt im großen Schlafzimmer und sie alleine im Kinderzimmer. Das gucken wir, wenn wir dort sind“, erwiderte ich.
„Reicht unser Geld?“ Jetzt war er besorgt.
„Ja“, antwortete ich. „Es ist noch etwas auf unserem Konto, sodass wir uns dort unten sogar Lebensmittel kaufen können, wenn wir müssen.“
Ich lächelte müde. Er lächelte zurück. Dann buchte ich die Wohnung für drei Übernachtungen. Weitere gute Fünfhundert Euro verschwanden von unserem Konto. Zurück blieben noch knappe Eintausend Euro. Das musste für Medikamente und Rückreise reichen.
Nach einer Pause fragte ich: „Weiß dein Chef Bescheid, dass du ein paar Tage nicht kommen wirst?“
„Ach, du weißt doch, wie Horst ist“, begann er. „Er würde mir raten, euch alleine nach Stuttgart zu schicken. Er hat kein Verständnis für unsere Situation. Er meint, dass ein Körper entweder den Kampf gegen die Keime gewinnt oder eben nicht. Und die meisten verlieren ...“
„Also hast du ihm nichts gesagt?“, unterbrach ich ihn lauter als beabsichtigt. Ich wollte wütend werden und ihn anschreien. Er riskierte seinen Job. Horst konnte ihn jederzeit kündigen, wenn er unentschuldigt fehlte. Ich traute es dem alten Griesgram gut und gerne zu.
„Beruhige dich doch, Marie“, sagte er. „Ich habe ihm nichts von Lydia erzählt. Ich habe gesagt, dass ich mich nicht ganz wohl fühle und lieber ein paar Tage Zuhause bleiben will um sicherzugehen, dass ich nichts ausbrüte.“
Ich atmete erleichtert auf. „Dann ist ja gut.“
„Schlaf jetzt, wir müssen morgen früh los“, erwiderte er beruhigend und löschte das Licht.
Ich kuschelte mich in der stickigen Dunkelheit an ihn und versuchte, nicht an die bevorstehende Reise zu denken.
~~~
Das laute Klingeln des Weckers riss mich viel zu früh aus einem unruhigen Schlaf. Gähnend setzte ich mich auf. Durch die Jalousie drang spärliches, fahles Morgenlicht. Wie üblich lag Seenebel über der Stadt. Nachdem ich mich eilig fertig gemacht hatte, holte ich Lydia aus dem Bett. Sie war erstaunlich wach für diese Zeit. Sie hatte gestern wohl genug geschlafen.
„Mama, wohin fahren wir?“, fragte sie während ich den Reißverschluss ihres Overalls zuzog und ihr einen Mundschutz reichte.
„Nach Stuttgart, Liebes. Dort soll es Medikamente geben“, erwiderte ich behutsam. Ich hatte ihr gestern zwar alles erzählt, doch sie schien mir im Fieber nicht ganz gefolgt zu sein.
Sie nickte nur, zog den Mundschutz über und steckte ihre Hände in die bereitliegenden Handschuhe.
Nach einem hastigen Frühstück kontrollierte ich, dass alle Fenster fest verschlossen und die Jalousien heruntergelassen waren. Ich nickte Martin zu. Wir griffen unser Gepäck und liefen zur Bushaltestelle.
Der Fahrer beäugte uns misstrauisch. „Alle gesund?“, fragte er barsch.
Ich hatte das Gefühl, dass er Lydia ungewöhnlich lange anstarrte. Martin schien dies ebenfalls zu bemerken, denn er trat schützend vor sie.
„Alle gesund“, log ich. Wir hatten wirklich nicht mehr das Geld, uns noch ein sogenanntes Seuchentaxi für die kurze Strecke zum Bahnhof zu leisten. Wir würden nur vier Stationen fahren, sagte ich mir abermals. Lydia würde sich bestimmt nicht übergeben. Alles würde gutgehen.
Ohne ein weiteres Wort nickte der Busfahrer grimmig. Wir zogen alle unsere Smartphones über den Kontakt an seiner Kabinentür, und die elektronischen Tickets ploppten auf den Displays auf. Am Ende gab ich einen Code ein und bestätigte die Abbuchung von meinem Konto. Wieder sah ich einen Betrag schwinden, diesmal nur einen kleinen.
So früh am morgen war der Bus menschenleer. Wir setzten uns dicht an die Tür und fuhren schweigend bis zum Bahnhof. Wir blieben die einzigen Fahrgäste. Erst als wir am Hauptbahnhof ausstiegen, stiegen Leute ein.
Draußen atmete ich erleichtert auf. Ich war froh, dass der Fahrer nichts von Lydias Infektion gemerkt hatte. Im Bahnhofsgebäude liefen wir direkt zum Gleis. Der Zug stand noch nicht bereit, also setzten wir uns in das Schutzhäuschen für Infizierte. Das Seuchenabteil würde genau vor unserer Nase halten, um mögliche Berührungspunkte von Infizierten und Gesunden zu minimieren.
„Wieso sagen die Leute nur Seuchenabteil?“, begann Lucas. „Lydia hat doch gar keine Seuche. Eine Seuche wäre es nur, wenn der ganze Stadtteil infiziert wäre, oder zumindest ganze Straßenzüge.“ Sein Gesicht wurde rot, als er sich aufzuregen begann.
„In Wirklichkeit heißt es Abteil für Risikominimierung und Infektionsschutz“, erklärte Martin. „Aber das ist den Leuten zu umständlich, daher sagen sie einfach Seuchenabteil.“
Bevor er weitere Fragen stellen konnte, fuhr der Zug quietschend in den Bahnhof ein. Wir griffen unser Gepäck und stiegen in den Waggon. Ein schmutziger, älterer Mann mit zerzaustem Haar lag auf einer Bank und schnarchte. Weiter hinten saß eine Frau mit tränenden, rot unterlaufenen Augen. Keiner von beiden machte Anstalten aufzustehen, obwohl ich stumm darauf gehofft hatte.
Lydia sah mich groß an. Dann deutete sie auf die beiden Leute im Zug.
„Bis Bremen ist es nicht weit. Und ab da haben wir ein eigenes Abteil“, sagte ich schnell.
Ich fuhr zum ersten Mal im Seuchenabteil einer Regionalbahn. Es war hier tatsächlich so unhygienisch und schmutzig, wie in den Nachrichten so oft bemängelt wurde. Im Augenwinkel beobachtete ich verstohlen die schniefende Frau. Sie sah aus, als könne sie eine Menge Passagiere anstecken, eine wahre Bazillenschleuder. Als hätte sie meinen Blick bemerkt, kam sie langsam auf uns zu und bat krächzend um Taschentücher.
Ich sah Martin auffordernd an. Er verstand und erklärte. „Tut mir leid, wir haben keine.“
Dabei wedelte er ununterbrochen mit der Hand, ganz so, als wolle er Fliegen verscheuchen. Die Frau verstand und schlurfte zu ihrem Sitz zurück.
Schweigend saßen wir da und warteten, dass wir Bremen erreichten. Ein Schaffner in dunklem Schutzanzug betrat unser Abteil. Er sah sich unsere Fahrkarten auf dem Display meines Smartphones an, nickte und ging wieder. Erst als wir eine knappe Stunde später in Bremen ankamen, fühlte ich mich besser.
Bremen war eine große Stadt mit einem großen Bahnhof. Glasscheiben an den Bahnsteigen verhinderten, dass Leute vor den Zug springen konnten. Dies war jedoch nur ein Nebeneffekt, gebaut wurden sie ursprünglich, um Kranke aus dem Seuchenabteil zu zwingen, direkt aus dem Zug in eine Schutzhütte zu gehen. Wir stiegen aus und standen zwangsläufig in der Hütte, die mit Glasscheiben vom restlichen Bahnsteig abgetrennt war. Es war so, als säßen wir in einem Käfig. Die Luft roch schal. Sie wurde so viele Male filtriert.
Ich zog mein Smartphone hervor und sah, dass wir zu einem anderen Gleis mussten. Also gingen wir zum Fahrstuhl am Ende der Hütte. Als sich die Tür hinter uns schloss, sah ich die Frau mit den rot unterlaufenen Augen aus dem Zug klettern. Sie gesellte sich zu den wenigen Gestalten, die zusammengesunken in der Schutzhütte hockten.
„Gott sei dank. Die sind wir los“, murmelte Martin.
Der Fahrstuhl brachte uns nach unten ins Erdgeschoss. Wieder mussten wir durch gläsern abgetrennte Wege am Rand der anderen Wege laufen. Wir sahen einige Menschen vorbeigehen. Sie würdigten uns keines Blickes. Warum auch? Sie waren gesund. Ihnen ging es gut.
Der Bahnhof war erstaunlich leer für eine große Stadt früh am morgen. Damit hatte ich nicht gerechnet. „Die Welt ist viel leerer, als ich gedacht hatte“, murmelte ich.
Lydia sah mich erstaunt an. Sie verstand, was ich gemeint hatte. Ich konnte die Angst in ihrem Gesicht sehen. Sie fragte sich, ob sie bald die Nächste sein würde. Ich drückte ermunternd ihre Schulter und schob sie weiter. Ich wollte jetzt nicht an die Schlagzeilen denken, die damals um die Welt gegangen waren, als alles begonnen hatte. Viel zu viele Menschen waren bei Seuchen gestorben. Die Weltbevölkerung war auf ein Drittel dezimiert worden. Ich schluckte schwer, wischte die Gedanken beiseite und konzentrierte mich darauf, den richtigen Bahnsteig zu finden.
Dort hinten, er lag beinahe am Seitenausgang, der Infizierten vorbehalten war. Wir stiegen in einen Fahrstuhl, der in die Wand eingelassen war und uns nach oben brachte. Gegenüber war ein Bäcker. Die Brötchen und Kuchenstücke in der Auslage schienen zum Greifen nah, waren durch das Glas aber unerreichbar. Lucas starrte hungrig hinüber. Da konnte ich gut nachvollziehen, warum sich so viele über die strikte Trennung von Infizierten und Gesunden beschwerten. Aber ich verstand auch die Argumente der Politiker: Die Trennung war nötig, um Epidemien vorzubeugen.
Unser Zug stand schon bereit. Wir bezogen direkt unser eigenes, kleines Seuchenabteil. Es unterschied sich auf den ersten Blick nicht von einem gewöhnlichen Abteil. Die Glasschiebetür war jedoch dicker und verriegelte sich automatisch, als ich mein Smartphone auf das Pad legte und unsere Ankunft bestätigte. Kalte Luft blies durch die Lüftung. Hinter einer unscheinbaren Tür war ein winziges Klo, was nach unserem Ausstieg gesondert gereinigt werden würde. Unter anderem ein Grund für den Aufpreis.
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Die Stadt Bremen rauschte am Fenster vorbei. Ein Meer aus Hochhäusern. Viele waren verfallen. Am Stadtrand stand ein eingestürzter Funkturm. Die Menschheit war in den letzten Jahren so sehr geschrumpft. Überall standen ganze Stadtteile leer. In Wilhelmshaven war es auch deutlich zu spüren, aber nicht so sehr wie hier.
Lucas schaute nachdenklich aus dem Fenster. Jetzt zogen Wiesen und Wälder an uns vorbei. Lydia blätterte lustlos in einem Buch. Sie hatte sich eine Decke aus meinem Rucksack geholt, doch sie half nicht gegen den Schüttelfrost.
Martin starrte auf sein Smartphone, so wie ich. Ich blätterte desinteressiert durch die Nachrichten, die seit Monaten immer die gleichen waren: Krankheit und Tod überall.
Ein Klopfen an der Glasscheibe riss mich aus meinen Gedanken. Draußen auf dem Gang stand der Schaffner. Ich zeigte ihm das elektronische Ticket. Er nickte und fragte:
„Sie haben eine weite Reise vor sich. Möchten sie etwas zu essen kaufen?“
Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, was meine Kinder dachten. „Ja, eine große Tasse Kräutertee und eine Tüte Gummibären, bitte“, antwortete ich.
„Ich will aber lieber Frösche“, begann Lucas.
„Sei still, sonst kriegst du gar nichts“, herrschte Martin ihn an. Sanfter fügte er hinzu: „Wir haben nicht viel Geld, und Gummibären sind günstiger als Frösche.“
Der Schaffner notierte sich meine Bestellung in sein Smartphone und verschwand. Wenig später kam jemand mit einem Wägelchen vorbeigeschoben. Er klopfte an die Scheibe und öffnete ein kleines Fenster.
„Hier ist Ihre Bestellung“, sagte er und reichte mir zuerst den Tee und dann die Süßigkeiten.
Ich gab Lydia den Kräutertee. Sie drückte die heiße Tasse sofort gegen ihre Wange. Martin öffnete die Tüte Gummibären und gab Acht, dass sich Lucas nicht gleich alle nahm.
Schweigend saßen wir, während die Stunden langsam vorbeizogen. Wir sprachen kaum, hingen alle unseren eigenen Gedanken nach. Lydia döste manchmal. Mit einem Mal sagte Lucas laut:
„Warum haben sie damals Colistin und andere, letzte Reserveantibiotika in der Viehzucht benutzt? Jetzt sitzen wir hier und können nichts mehr tun. Alle Bakterien sind resistent. Nichts hilft mehr. Man hätte sie wenigstens verklagen und zwingen können, ihr ganzes Geld in die Suche nach neuen Medikamenten zu stecken.“ Er verzog ärgerlich und verzweifelt das Gesicht.
„Vielleicht hätte man das tun sollen“, sagte ich milde. „Doch dafür ist es schon lange zu spät. Lasst uns das Beste aus unserer Situation machen.“ Meine Worte klangen viel positiver, als ich mich fühlte, doch das wollte ich meinen Kindern nicht zeigen.
„Viele Betreiber von Mastbetrieben sind als erstes gestorben, weil sie täglichen Kontakt mit ihren Tieren und den multiresistenten Erregern hatten“, ergänzte Martin.
„Das nennt man göttliche Gerechtigkeit“, sagte Lucas verbittert und sah zu Lydia hinüber, die in ihrem Sitz döste.
~~~
Am späten Abend erreichten wir Stuttgart. Im Bahnhof liefen wir durch einen Glasgang zum Ausgang für Infizierte. Hier erwartete uns eine Passkontrolle. Außerdem wurden wir genauestens über den Grund unseres Aufenthaltes und Lydias Krankheit ausgefragt. Martin erzählte die Geschichte vom Klassentreffen während ich die Infektion herunterspielte. Ich betonte, dass Lydia schon auf dem Weg der Besserung war. Doch als ich sagen musste, dass sie die Infektion vom Strand hatte, nahmen sie trotzdem eine Blutprobe und ließen sich die Adresse unserer Unterkunft geben.
Martin und ich warfen uns stumme Blicke zu. Wir beide wussten, was es bedeutete. Wenn sie den Erreger identifiziert hatten, würden sie uns vielleicht abholen und in eine Quarantänestation stecken. In diesem gigantischen Brutschrank würden wir uns mit allem anstecken, was die Leute dort hatten. Bevor man uns gehen lassen würde, würden wir elendig verrecken. Es machte mir Angst, dass sie Lydias Blutprobe hatten. Doch es gab nichts, was ich hätte tun können.
Die Polizisten riefen uns ein Seuchentaxi und beobachteten uns, bis wir in die gesicherte Kabine gestiegen waren. Ich nannte dem Fahrer die Adresse unserer Ferienwohnung und bezahlte seufzend. Allzu viel Geld verschwand von unserem Konto.
Eine halbe Stunde später standen wir vor einer dunklen Tür in einer dunklen Straße. Mittlerweile war die Luft draußen angenehm kühl. Ich hielt mein Smartphone vor das Panel an der Tür. Sie glitt leise summend auf.
Drinnen stellte ich hastig meinen Koffer und meinen Rucksack ab. Dann nahm ich Martin beiseite und sagte eindringlich: „Beeil dich mit den Medikamenten! Ich kümmere mich hier um die Kinder und die Wohnung. Ich will bloß nicht, dass die Polizei morgen kommt und Lydia in eine Quarantänestation verschleppt!“
„Beruhige dich doch, Marie“, sagte er mit gezwungener Ruhe. „Ich gehe sofort los. Und wenn ich einmal die Tabletten habe, wird Lydia im Nu wieder gesund. Alles wird gut.“
Ich sah ihm an, dass er sich selbst nicht glaubte, dennoch klammerte ich mich an diese Worte des Trostes. Ich gab ihm einen kurzen Kuss zum Abschied. Dann wandte ich mich der Wohnung zu.
Eines der Kinderbetten passte problemlos ins Elternschlafzimmer, sodass Lydia ihr eigenes Zimmer hatte. Als ich mit Möbelrücken fertig war, steckte ich sie sofort ins Bett. Ich brachte ihr eine große Tasse Tee und wickelte sie in drei Decken ein. Ihr Fieber war weiter gestiegen. Sie fror erbärmlich, aber sie hatte sich den ganzen Tag nicht übergeben. Seufzend zog ich Handschuhe und Mundschutz aus und warf beides in den Müllschlucker. Ich wusch meine Hände gründlich mit Seife und stellte einen Topf Nudeln auf den Herd. Lucas hatte die ganze letzte Zeit schon hungrig geguckt, und ich konnte mittlerweile auch etwas vertragen. Dann warteten wir zusammen auf Martins Rückkehr. Es war nichts mehr zu tun.
Gegen Mitternacht hörte ich ihn endlich. Er stank nach Alkohol. Sein Gesicht war rot und geschwollen. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte ich erschrocken.
Er antwortete nicht, sondern reichte mir eine Schachtel Tabletten. „Einmal morgens und einmal abends“, krächzte er und sank erschöpft auf einen Küchenstuhl.
Ich ließ ihn sitzen und eilte sofort zu Lydia. Erbarmungslos weckte ich meine schlafende Tochter und zwang eine Tablette in ihren Mund. Es muss helfen, es muss einfach! Es ist unsere einzige Hoffnung. Ich flehte im Stillen zu allen Göttern, die mir einfielen und entschuldigte mich gleichzeitig bei ihr für die rabiate Störung. Sie nickte nur träge und schlief erschöpft sofort wieder ein.
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Die nächsten drei Tage warteten wir. Lydia fror noch immer erbärmlich und übergab sich oft, doch ihr Fieber sank langsam. Jede Nacht träumte ich von Polizisten in Seuchenschutzanzügen, doch sie kamen nie. So wuchs meine Hoffnung beständig. Manchmal fragte ich Martin, was nachts in der Kneipe passiert war. Er wollte nicht antworten. Letztendlich wollte ich es auch gar nicht so genau wissen. Wir hatten das Antibiotikum bekommen, und es schien tatsächlich zu wirken. Das allein zählte.
Eines Morgens gab ich Lydia die letzte Tablette und schicke Martin los, mehr zu besorgen. Da rief mich die Vermieterin der Ferienwohnung an und verlangte eine Nachzahlung für die letzten Tage, die wir bereits länger hier waren. Ich versuchte sie herunterzuhandeln, doch vergebens. Ich überlegte flüchtig, nicht zu zahlen und stattdessen eine Rückfahrt für morgen zu buchen. Das würde eine Anzeige geben. Die Polizei hatte bereits Lydias Blutprobe. Was würden sie machen, wenn wir auch noch die Miete nicht zahlten? Ich wollte es nicht herausfinden, also überwies ich das Geld. Damit war unser Konto beinahe leer. Lucas half mir packen während Lydia stumm zusah.
Draußen war es drückend warm. Wir setzten uns auf eine Parkbank unweit des Hauses. Lydia legte sich ins Gras und blätterte in ihrem Buch. So warteten wir auf Martin. Er brachte tatsächlich weitere drei Tabletten mit. Doch ihr Preis hatte sich inzwischen verdoppelt.
„Was machen wir jetzt nur? Unser ganzes Geld ist futsch“, jammerte ich leise.
„Ich habe meine Kreditkarte dabei“, sagte Martin. Er buchte eine Rückfahrt für heute. Mit viel Umsteigen, aber wir kamen zurück nach Hause.
„Die Miete in Wilhelmshaven ist bald fällig. Wir sind pleite“, murmelte ich leise.
„Das muss warten, bis wir Zuhause sind“, antwortete er.
Schweigend nahmen wir den Bus zum Bahnhof und stiegen in den Zug. Wie auf der Hinfahrt hatten wir unser eigenes Seuchenabteil.
„Immerhin ist unsere Tochter fast wieder gesund“, lächelte ich. Ich war glücklich. Unsere Anstrengungen hatten sich gelohnt. Ich vergaß darüber beinahe, dass wir kein Geld mehr hatten.
„Das allein zählt“, bestätigte Martin.
Lucas umarmte seine Schwester vorsichtig voller Freude.
In unserem Waggon lief ein Radio. Die Stimme des Nachrichtensprechers zerschnitt die Ruhe. Er erzählte etwas von Medikamenten. Da hörte ich genauer hin.
„… neue Antibiotikum wirkt nur bei circa zwei Prozent aller Infektionen. Die Politik warnt die Bevölkerung. Bitte kaufen Sie keine Tabletten auf dem Schwarzmarkt.“
„Zum Glück hat es bei dir geholfen“, sagte Martin zu Lydia.
Ich fühlte meine Freude und Hoffnung schwinden. Ein erdrückendes Gewicht legte sich auf mich.
„Die Welt ist am Ende“, murmelte ich erschöpft.
„Am Ende der Hoffnung“, fügte Lydia hinzu.
Den Rest der Reise schwiegen wir, unendlich froh über ihre glückliche Genesung.